Normalverteilung (2003)
Ein Kind sitzt in seinem Kinderzimmer und spielt mit Kugeln, und zwar so, dass die armen und geplagten Eltern fast verrückt werden dabei. Es hebt nämlich eine Hand voll Kugeln, und zwar müssen sie unbedingt gleichgroß sein, in Brusthöhe, ungefähr und lässt sie dann auf den Parkettboden fallen. Das macht klackerklacker im ganzen Haus, so dass seine Eltern, wie gesagt. Dann entsteht eine Geräuschpause, in der das Kind, es braucht einen Namen, Kevin, in der Kevin sich erhebt und genau anschaut, wie die Kugeln liegen, dann geht die ganze Prozedur von vorne los. Leider hat es keinen Sinn, dem Kind es zu verbieten, denn es ist nicht ganz richtig, wenn Sie verstehen was ich meine. Es schaut niemanden an und zwar seit seinem dritten Lebensjahr und sagt nie einen Ton; außer Schreien, wenn man das als "Sagen" bezeichnen will. Einmal haben sie ihm die Kugeln weggenommen, du lieber Gott, das hätten sie besser gelassen: es hat die ganze Zeit geschrien, bis die Eltern nach anderthalb Tagen aufgeben mussten, nicht zuletzt wegen der Nachbarn, aber vor allem, weil einer der beiden Elternteile das Kind sonst noch umgebracht hätte. Schreien oder Klackern, dann für den Moment lieber Klackern. Sie nehmen aber einen Teppich, den sie in einem Baumarkt kaufen, und verlegen ihn in dem Zimmer des Kindes. Das Kind ist es zufrieden, zum Glück, und widmet sich fortan seiner Kugelbahn, wenn man es so nennen will. Vorteil fürs Kind: die Kugeln rollen nicht so weit weg, wie beim Parkettboden, so dass es zum Anschauen und die Kugeln wieder aufsammeln nicht so lange braucht und den Versuch öfter wiederholen kann.
Aus alten, dem Schüler übereigneten Schulbüchern, Learning Heimat und Sachkunde, Mengenlehre 1 und so, baut es einen Turm, der exakt Brusthöhe hat. So kann es die Fallhöhe der Kugeln ganz genau immer gleich wiederholen. Würde man denken. Die Bücher schaut sich das Kind auch innen an, so entdeckt es wohl, dass es Zahlen und Buchstaben gibt. Interessant, denkt das Kind - ach es sollte ja beim Namen genannt werden - denkt Kevin, eventuell. Jedenfalls kritzelt er mit einem braunen oder manchmal einem roten Buntstift auch Reihen, und zwar zwischen die Zeilen. Ehrlich: zum Glück handelt es sich nur um alte Rechenbücher, Grundschule und nicht zum Beispiel um ein wertvolles Buch mit Goldschnitt oder Schillers gesammelte Werke, wer weiß was dann passiert wäre.
Also gut. Die Sache zieht sich über Monate, wenn nicht sogar Jahre hin.
Ein Freund von Kevins Vater wohnt in der Einflugschneise und kann ein Lied davon singen. Er denkt: Was fehlt denn da, aber weil er ja nicht hört, was fehlt, dauert es eine Weile, bis er draufkommt: Pilotenstreik. So geht es auch den Eltern, der Mutter in diesem Fall. Eines Tages hört die Klackerei plötzlich auf.
Wie sie in das Zimmer des Kindes kommt, läuft das Kind, wie es aussieht einen phantasierten Irrgarten auf dem Teppich ab, indem es immer einen Fuß vor den anderen setzt, so dass Zehen links sich mit Verse rechts berühren und dann umgekehrt.
So geht das jetzt los. Das Ende vom Lied ist, dass das Kind mit der Zeit richtige Bahnen in den Teppich läuft und es ergibt sich ein engmaschiges Gittermuster.
Jetzt kommt der Clou: Als die Mutter das Zimmer aufräumt, und die Kugeln, Zettel und Bücher wegräumt, die das Kind, Kevin, jetzt nicht mehr interessieren, entdeckt sie eine Zahlenreihe, und der Freund aus der Einflugschneise ist gut in Mathematik und es ist die Formel der Gaussschen Normalverteilung.
Schade, hundert Jahre zu spät.
kontakt
terminkalender